“Das Soziale digitalisieren – das Digitale sozialisieren”. Der Titel meines Beitrags zum Thema digitale Transformation der Pflege bringt die zwei Seiten der Medaille, um die es der Freien Wohlfahrtspflege beim Thema Digitalisierung geht, zum Ausdruck. Die erste, die unternehmerische Seite hat einen starken Selbstbezug auf die Verbände, Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege. Der andere Aspekt stellt die anwaltschaftliche Rolle in den Vordergrund, die die Freie Wohlfahrtspflege für die Entwicklung einer humanen Gesellschaft auch im Interesse der sonst benachteiligten Menschengruppen wahrnimmt. Hier geht es auch um die Ermöglichung von Teilhabe und die Verhinderung eines „digital gap“: Digitale Teilhabe als Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, Paritätischer Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Deutschland und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland mit ihren etwa 1,7 Mio. hauptamtlichen Mitarbeitenden in ca. 120.000 Einrichtungen und Diensten, haben diese Herausforderung erkannt und stellen sich ihr.
Sie haben in diesem Zusammenhang mit dem BMFSFJ eine strategische Partnerschaft unter dem Titel „Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt – Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege unter den Vorzeichen der Digitalisierung“ vereinbart.
Wesentliche Handlungsfelder im Rahmen dieser Partnerschaft sind die Folgenden:
- „Sozialraumorientierte soziale Arbeit: Ziel ist es, analoge Angebote durch digitale zu ergänzen und weiterzuentwickeln, um Beteiligung zu stärken und neue Formen des Engagements einzubeziehen. Virtuelle sozialräumliche Erfahrungsräume müssen für eigene verbandliche und weitere Angebote (über Portale oder Plattformen) erschlossen und integrativ so nutzbar gemacht werden, dass Zugangsbarrieren für Zielgruppen aus allen Generationen, Milieus und Lebenslagen abgesenkt werden.
- Freiwilliges Engagement und Selbsthilfe: Ziel ist es, Engagierten ein Forum für den Austausch im Netz und für digitale Formen der Mitwirkung zu bieten und sie zugleich in fach- und verbandspolitische Diskurse einzubinden. Dafür ist der digitale Aus- und Umbau der Engagementinfrastruktur (Wissensmanagement, Vernetzung und Koordination, Möglichkeiten des Online-Volunteerings, digitale Angebote von Moderation, Fortbildung und Begleitung) notwendig. Hierbei kommt z.B. der Selbstorganisation von Migrant/innen und dem Empowerment von Selbsthilfegruppen eine große Bedeutung zu.
- Beratung und Therapie: Ziel ist es, die erfolgreichen Angebote der online- Beratung auszubauen und konzeptionell weiterzuentwickeln. Grund sind die hohe Nachfrage und die sich verändernden Anforderungen an digitale Beratungsformate. Ihre strukturelle Vernetzung erfordert neue Formen der Zusammenarbeit unter Einbindung von Peer-to-Peer-Beratung. Hierzu gehört auch die Entwicklung neuer, digital basierter und begleiteter Betreuungs- und Begleitungskonzepte.
- Qualifikation und Bildung: Ziel ist es, dass sich haupt- und ehrenamtliche Mit- arbeitende auf allen Ebenen der Verbände qualifizieren müssen im Umgang mit neuen Anforderungen, die sich in der Digitalisierung für die soziale Arbeit ergeben. Es geht dabei um das Verstehen der Erfordernisse digitaler Produkte, Prozesse und Organisation, um methodische Kenntnisse des vernetzten, kollaborativen Arbeitens sowie um die Fähigkeit zur Gestaltung von Veränderung. (…)
- Management und Innovation: Ziel der Freien Wohlfahrtspflege bleibt es, sozial innovative Dienstleistungsmodelle sowie neue Struktureinheiten zu entwickeln, die für zukünftige Herausforderungen adäquate Lösungsansätze ermöglichen und neuartige Kooperationen fördern. Methoden des Design Thinking und innovative IT-Lösungen von Querdenkern können technische und organisatorische Entwicklungsprozesse synchron befördern.
- Potentiale digitaler Innovation nutzen und durch Personal- und Organisationsentwicklung implementieren: Ziel ist die organisatorische Anpassung von verbandlichen Prozessen, die durch digitale Innovationen erforderlich wird. Dabei sind strukturelle Agilität und neue Formen des Wissensmanagements zu entwickeln und zu fördern. Aufgabe der Freien Wohlfahrtspflege ist es, im Rahmen der Personal- und Organisationsentwicklung auf diese Entwicklung so zu reagieren, dass Lösungsansätze rasch erprobt und erfolgreich umgesetzt werden können.“
Dabei besteht Übereinstimmung unter den Partnern, dass sich Gesellschaftliche Gewinne aus der digitalen Transformation für die Bundesrepublik als demokratischer Sozialstaat verlässlich dann erzielen lassen, wenn wesentliche Leistungssegmente sozialer Infrastruktur auch in der digitalen Gesellschaft nachhaltig gemeinwohlorientiert gewährleistet werden.
Schon jetzt zeigt sich eine erhebliche Dynamik in der Nutzung von digitalen Produkten, die die Hilfebedürftigkeit und Beeinträchtigung einer selbstbestimmten Teilhabe ausgleichen sollen. Die damit verbundenen Fragen der Zulassung und Finanzierung, aber auch der Datensicherheit und des Verbraucherschutzes so wie der erforderlichen Verknüpfung mit personenbezogenen Leistungen sind noch bei Weitem nicht beantwortet. In der Implementierung digitaler Innovationen ist es daher unerlässlich, die Auswirkungen auf die Zielgruppen ihrer Arbeit und auf die Mitarbeitenden einzubeziehen, ethische Fragestellungen zu reflektieren sowie die Teilhabe und Selbstbestimmung der jeweiligen Zielgruppe zu gewährleisten und idealerweise zu stärken.
Daraus entstehen im Ergebnis auch neue Berufsprofile und die zwingende Notwendigkeit einer kontinuierlichen Qualifizierung von Haupt- und Ehrenamtlichen. In die Ausbildungsordnungen für Soziale Arbeit müssen diese Anforderungen umgehend implementiert werden.
Die rasante Entwicklung immer neuer technologischer Produkte verlangt eine sorgfältige Bewertung der Auswirkungen auf die unmittelbar Beteiligten ebenso wie auf das Zusammenleben in der Gesellschaft. Sie erfordert fachlich, politisch und ethisch fundierte Entscheidungen über den Einsatz digitaler Technologien und die Modalitäten ihrer Nutzung. Die Freie Wohlfahrtspflege wird ihre grundlegenden Werte und politischen Ziele – in der Verantwortung für eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft für alle – auch zur handlungsleitenden Grundlage in der Mitgestaltung der Digitalisierung machen.
Ziel ist, dass die Prozesse der verbandlichen Digitalisierung zielgerichtet, Ressourcen sparend, standardgerecht und abgestimmt vorangebracht werden. Die Spitzenverbände müssen hierfür – neben neuen Kooperationspartnern – einen gezielten Austausch zwischen den verbandliche Ebenen organisieren, um gegenseitige Impulse und gemeinsames Lernen im Rahmen einer verbandlichen digitalen Agenda zu ermöglichen.
Autor: Dr. Gerhard Timm, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
Foto: BAGFW/Dirk Hasskarl
Mehr dazu:
Timm, Gerhard (2019): Das Soziale digitalisieren – das Digitale sozialisieren. In: Elmer, Arno/ Matusiewicz, David (Hrsg.): Die Digitale Transformation der Pflege. S. 127-130. Berlin.