Digitalisierung ist vor allem eine soziale Herausforderung – von Ulrich Lilie

Ulrich Lilie

Deutschland wird digitaler: Die Arbeitswelt, aber auch viele Bereiche unserer Lebenswelt werden sich dramatisch verändern. Der Übergang von der Industrialisierung in die Welt der Postindustrialisierung, für den die Digitalisierung einer der Motoren ist, braucht enorme Gestaltungsleistung. Es gibt Wissenschaftler, wie den Soziologen Andreas Reckwitz, die hier einen Epochenbruch sehen, der in seiner gesellschaftsumwälzenden Kraft mit der Transformation der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft zu vergleichen ist. Mit dem Unterschied: Dass Digitalisierung und Postindustrialisierung ein sehr viel höheres Tempo vorlegen.

Die Digitalisierung ist eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir auch als Verbände der Freien Wohlfahrtspflege aktuell gemeinsam stehen. Denn bei diesem Thema geht es um soziale Gleichheit, um die existenziellen Fragen der Teilhabe – also um Zusammenhalt.

Und damit meine ich ausdrücklich nicht nur den schleppenden Ausbau des schnellen Internets. Oder die Frage, wie die flächendeckende Ausrüstung von Schulen mit Laptops und Whiteboards realisiert werden kann. Wir müssen insbesondere die sozialen Folgekosten der Digitalisierung im Blick behalten.

Digitalisierung wird die Arbeitswelt auf eine Weise verändern, die sich nur schwer vorstellen lässt. Nicht nur sogenannte niedrigqualifizierte Berufe werden erfasst, viele werden wegfallen, auch die Arbeit der Fachärztin, der Pflegefachkraft oder des Architekten werden sich von Grund auf verändern. Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln sieht in den Digitalisierungsprozessen auch große Chancen für die Wirtschaft. Aber auch er wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass fast die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung nicht hinreichend qualifiziert ist, um die Folgen der Digitalisierung aufzufangen.

Wie stellen wir sicher, dass der große Anteil der Menschen, die jetzt schon in Sachen Bildung, in Sachen Qualifikation benachteiligt sind, an diesem jetzt notwendigen Qualifizierungsschub überhaupt Anteil haben? Wie stellen wir deren soziale Teilhabe sicher? Wie verhindern wir, dass die Bildungsverlierer von heute – und ihre Kinder – vom Arbeitsmarkt und der Gesellschaft abgehängt werden? Wie stellen wir sicher, dass Bildung zukünftig nicht noch stärker von der Herkunft abhängt. Da sind wir inzwischen wieder schlechter als in den Siebzigerjahren.

Digitalisierung ist nicht nur eine technische, sondern eine soziale Herausforderung.

Wir brauchen eine Bildungsoffensive in Deutschland, die die Menschen mitten im Berufsleben erreicht. Wir müssen die Bundesagentur für Arbeit neu denken und zu einer Bundesagentur für Qualifikation weiterdenken. Digitale und individualisierte Bildungsförderungsplattformen können helfen. Zeiten der Beschäftigungslosigkeit müssen ganz anders Zeiten der Qualifizierung werden. Zu erwartende Beschäftigungslosigkeit braucht Begleitung.

Zum anderen geht es aber auch darum eine Idee von New Work zu realisieren. Wie kann sich die Arbeitswelt so verändern, dass sich die Chancen der Digitalisierung – Stichwort mobiles Arbeiten –, hinein übersetzen lassen in anderen Lebensbereiche, die wir heute noch als Konkurrenz zum Beruf verstehen.

Lassen sich Fragen von Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sei es im Blick auf Elternzeit oder Pflege von Angehörigen, anders in den Bildungsweg integrieren? Sollten wir nicht andererseits notwendige Bildungszeiten genau wie Pflege- oder Elternzeit auf die Rente anrechnen?

Wie lassen sich „Lerninseln“ denken, auf denen man sich weiter qualifizieren, vielleicht auch neu erfinden kann, denken? Sollte es nicht möglich sein, dass wer etwa als Lagerist nicht mehr arbeiten kann, ein soziales Jahr einschiebt, dort seine Freude an der Pflege entdeckt, und „barrierefrei“ umgeschult werden kann? Wie kann man das finanzieren? Wir müssen die beruflichen und die Bildungskarrieren neu erfinden. Auch das meint die Herausforderung durch die Digitalisierung:

Es geht nicht nur um Breitband oder darum, dass wir Spitzenplätze bei der Entwicklung von KI besetzen. Es geht um den sozialen Zusammenhalt und um halbwegs gleichwertige Lebensverhältnisse, also um den sozialen Frieden im Land.

Autor: Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.

Foto: Thomas Meyer

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